Das war knapp. Die Kugel hätte fast mein Ohrläppchen getroffen. Seit wann schießen die? Diesmal schien es ihnen tatsächlich ernst zu sein. Offenbar eine Verzweiflungstat der Polizei. Gott sei Dank haben sie es nicht erwischt: das Ohrläppchen. Sonst hätte ich ein Problem mit meinem Alibi. Wer im Pflegeheim glaubt schon jemandem, der angeblich einen Ausflug mit einem Bewohner gemacht hat und mit zerschossenem Ohrläppchen zurückkehrt? Die Heck- und die Windschutzscheiben waren jedenfalls kaputt. So schlimm war das gar nicht, weil Peter am Steuer seine Brille aufhatte. Außerdem war es hier im Autobahntunnel mit 15 Grad deutlich wärmer als draußen und das Auto gestohlen.
Peter war völlig unbeeindruckt. Er hielt das Lenkrad voll konzentriert in der Hand. Dass die Scheibe vor ihm komplett zersplittert war, störte einen richtigen Rennfahrer nicht.
„Die Rennleitung wird ihn disqualifizieren“, war er sich sicher, das Rennen trotzdem zu gewinnen. „Soll ich ihn abhängen?“
„Ja! Vollgas jetzt!“, schrie ich Peter an. „Wir verlieren das Rennen sonst doch noch.“
„Wir verlieren nicht“, antwortete der wild entschlossene ehemalige Rennfahrer und gab Gas.
Ich wusste genau, dass der Polizeiwagen keine Chance mehr hatte. Ich befürchtete nur, dass die noch einmal versuchen würden, uns mit einem Schuss zu stoppen. Taten sie jedoch nicht. Wahrscheinlich hatten sie Angst, andere Autos im Tunnel zu gefährden. Unser kurzer Zwischenhalt im Tunnel hatte den ganzen vorher herausgearbeiteten Vorsprung auf Stoßstangenniveau schmelzen lassen. Aber dafür war er ja gedacht gewesen, der Vorsprung. Nicht umsonst hatte ich einen Profi als Fahrer engagiert. Geplant war ursprünglich, dass wir den Abstand zu etwaigen Verfolgern für einen Stopp in der vorher ausgekundschafteten Nothaltebucht nutzen würden. Ich war hinausgesprungen und wollte die Beute in der Mülltonne hinter der Tür des Tunnelnotausgangs deponieren. Dass diese schon übervoll war, konnte ich nicht vorhersehen. Ich stellte die Tasche deshalb einfach daneben und rannte zum Auto zurück. Peter fuhr los. Das Blaulicht des herannahenden Streifenwagens hatte bereits große Teile des Tunnels erhellt, und das Polizeifahrzeug kam immer näher, bis es in Schussweite war. Zum Glück verfehlten sie mein Lieblingsohrläppchen.
Aber jetzt vergrößerte sich der Abstand zwischen den beiden Fahrzeugen schnell wieder. Als der Tunnelausgang in Sichtweite kam, waren die Blaulichter bereits beruhigend kleiner geworden. Wir verließen den Tunnel und blieben stehen. Ich stieg aus, um den Polizisten zu signalisieren, dass wir auf sie warten würden.
Der Polizeiwagen hielt mit quietschenden Reifen schräg vor uns, damit wir nicht weiterfahren konnten. Hatten wir aber sowieso nicht vor.
Beide Polizisten sprangen mit gezückten Pistolen aus ihrem Fahrzeug und brüllten uns an:
„Stehen bleiben und keine Bewegung!“
„Warum haben wir angehalten?“, fragte mich Peter noch außer Hörweite der Beamten.
„Wir haben schon gewonnen“, machte ich ihm eine große Freude. „Und jetzt wird gefeiert!“
„Das machen wir“, jubelte Peter.
Mittlerweile hatten uns die Polizisten erreicht. Als sie sahen, dass wir unbewaffnet waren, entspannten sie sich ein wenig.
„Warum sind Sie nicht stehen geblieben, als wir im Tunnel mit dem Blaulicht direkt hinter Ihnen waren?“
„Ich habe kein Blaulicht gesehen.“ Peter konnte mal wieder nicht den Mund halten. „Außerdem gibt es auf dieser Rennstrecke keinen Tunnel. Wir sind ja nicht in Monte Carlo. Da gibt es schon einen, der ist superschnell. Leider war ich bei dem Rennen nur der Ersatzfahrer. Aber hier gibt es keinen Tunnel.“
Die Polizisten warfen sich einen verständnislosen Blick zu. Ich bedeutete Peter, dass ich die weitere Beantwortung übernehmen würde.